Pressemitteilung 10/22

Pressemitteilung 10/22
Die psychische Gefährdungsbeurteilung, gesetzlich gefordert im ArbSchG § 5

Seit Januar 2014 besteht nach § 5 ArbSchG die Pflicht für alle Unternehmen und Verwaltungen ab einem Mitarbeiter in regelmäßigen Abständen eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen und deren analytische und konzeptionelle Ergebnisse schriftlich zu dokumentieren.

Nach der Gefährdungsbarometer-Studie aus dem Jahr 2016 sind 27% der befragten Unternehmen und Verwaltungen über diese gesetzlichen Verpflichtungen nicht informiert,  36% kennen diese Verpflichtung, setzen sie aber bisher nicht um, 8% werden die psychische Gefährdungsbeurteilung in Kürze umsetzen. Rechnet man großzügig, dann haben mehr als 60% der Unternehmen und Verwaltungen noch keine konkreten Maßnahmen zur Umsetzung der gesetzlichen Verpflichtungen geplant oder gar durchgeführt.  Offenbar sind sich diese Unternehmen und Verwaltungen nicht darüber im Klaren, was diese Verweigerung oder auch die Verdrängung der  Verpflichtung  bedeuten könnte.

Die Gewerbeaufsichtsämter sind angewiesen, die Durchführung auch im Hinblick auf die Qualität und Nachvollziehbarkeit der Gefährdungsbeurteilung verstärkt und systematisch zu prüfen. Falls die psychische Gefährdungsbeurteilung nicht oder unzureichend durchgeführt wurde, wird ein relativ enger Termin zu Nachbesserung gesetzt. Verstreicht diese Frist, wird ein Bußgeld fällig. Viel gravierender ist allerdings die Möglichkeit, dass die Versicherungs-träger im Falle einer Mitarbeitererkrankung oder –frühverrentung (z.B. Burnout) die Unternehmen und Verwaltungen in Regress nehmen könnten,  sofern vorher keine fundierte psychische Gefährdungsbeurteilung durchgeführt, eventuell notwendige Verbesserungsmaßnahmen umgesetzt und nachvollziehbar dokumentiert wurden.

Selbst einzelne Mitarbeiter können ihren Arbeitgeber nicht nur im Schadensfall verklagen.  Die Unternehmen und Verwaltungen, die die psychische Gefährdungsbeurteilung noch nicht durchgeführt haben, sitzen quasi auf einer tickenden Zeitbombe. Man mag über die Sinnhaftigkeit einer psychischen Gefährdungsbeurteilung und die Beteiligungsverpflichtung auch von Kleinstbetrieben (ab einem Mitarbeiter!) heftig streiten. Stehen bei der  psychischen Gefährdungsbeurteilung doch qua Definition lediglich Arbeitsplatz-Kategorien und deren direkte physische und psychische Umgebung im Fokus, also die Verhältnisse an einem Arbeitsplatz. Die Analyse und Verbesserung des zweiten Faktors für psychische Gefährdungen, nämlich das individuelle Verhalten und die individuellen Ressourcen der an diesen Arbeitsplätzen tätigen Mitarbeiter, werden in der psychischen Gefährdungs-beurteilung nicht ausdrücklich gefordert. Hingegen zeigt die Praxis, dass in vielen Fällen erst das Zusammenwirken von Verhältnis (betriebliche Rahmenbedingungen) und Verhalten (individuelle Konstitution, Resilienz, Ressourcen)  eine Beurteilung dahingehend zulassen, ob eine Arbeitsplatz-Kategorie in einem bestimmten Fall zu einer psychischen Gefährdung führt.

Weithin ist unbekannt,  dass auch die Arbeitsplätze von Führungskräften ausdrücklich Inhalt der psychischen Gefährdungsbeurteilung, zumal gerade das Middle-Management in vielen Fällen in einer typischen Sandwich-Position starken psychischen Belastungen ausgesetzt ist und diese nicht selten in ihre Organisationen transformieren. Im Gegensatz zu den klassischen Arbeitsschutzgesetzen lassen sich psychische Gefährdungen nicht eindeutig messen, es kann lediglich mit mehr oder weniger stichhaltigen begründbaren Risiken und Gefahrenpotenzialen kalkuliert werden. Da zur Beurteilung des arbeitsplatz-spezifischen Risikopotenzials für psychische Gefährdungen zumindest ein betriebs-psychologisches Basis-wissen der Beurteiler notwendig ist, erscheint es schwierig und nicht ratsam zu sein, die psychische Gefährdungsbeurteilung sofort und ohne den Aufbau zusätzlicher Kompetenzen 1:1 in den klassischen Arbeitsschutz zu integrieren. Auch aus anderen Gründen sollten die Durchführung, die dabei genutzten Instrumente und Methoden und die Maßnahmenentwicklung der psychischen Gefährdungsbeurteilung von der klassischen Gefährdungsbeurteilung vorerst klar getrennt werden. Zum einen bietet die  Erfüllung der gesetzlichen Pflicht, wenn man es richtig, nachhaltig und zukunftsorientiert anlegt, eine hervorragende Basis für die Entwicklung eines Betrieblichen Gesundheits-management, für Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung zur Förderung des individuellen Gesundheitsmanagement der Mitarbeiter, Förderungsmaßnahmen zur Gesunden Führung, und das alles mit dem Ziel eines gesunden Unternehmens.

Zweifellos vermittelt die Gesetzgebung zur psychischen Gefährdungsbeurteilung den Eindruck eines bürokratischen Monsters, das von vielen Unternehmen als praxisfremd, unnötig, lästig und nur schwer umsetzbar angesehen wird. Für viele, leider noch in der Minderheit befindliche Unternehmen, die schon seit Jahren substantielle Schritte in Richtung Gesundes Unternehmen getan haben, mag die psychische Gefährdungsbeurteilung eine lästige Übung, quasi ein Schritt zurück sein. An dieser Einschätzung ist natürlich etwas dran,
auch bezüglich der unklaren bzw. nicht vorgegebenen Verfahrensweisen. Andererseits steckt in dem neuen Gesetz eine große Chance darin, das kaum zu überschätzende Thema der Mitarbeitergesundheit und –motivation noch einmal grundsätzlich und in raumgreifenden Schritten anzugehen.

Schaut man genau hin, gehört ein laxer Umgang mit der psychischen Gesundheit und der Motivation der Mitarbeiter zu den teuersten Fehlern, die ein Unternehmen oder eine Verwaltung machen kann. Insofern bietet die gesetzlich vorgeschriebene psychische Gefährdungsbeurteilung einen ausgezeichneten Anlass, sich mit dieser Kernproblematik systematisch, umfassend und sorgfältig zu beschäftigen. Wenn man es richtig macht, profitieren davon nicht nur die Mitarbeiter. Die psychische Gefährdungsbeurteilung deckt ganz nebenbei auch organisatorische Schwachstellen und Reibungsverluste auf, reduziert Qualitätsmängel und Produktivitätseinbußen und erhöht die Arbeitgeber-Attraktivität.

Und noch ein weiterer Aspekt: viele HR-Manager beklagen den Umstand, dass sie hauptsächliche verwaltende und abwickelnde Funktionen haben, und es an Möglichkeiten fehlt, einen nachhaltig gestaltenden Einfluss auf die Unternehmens-Politik auszuüben. Wie wäre es, wenn gerade die HR-Manager die Durchführung der psychischen Gefährdungsbeurteilung in ihren Unternehmen quasi „an vorderster Front“ aktiv unterstützen und fördern und zu ihrem Projekt machen würden? Selten zuvor gab es für HR-Manager und Personalleiter solch eine gute Chance, so bedeutsame strategische und nachhaltig gestaltende Funktionen für ihre Unternehmen zu übernehmen und ihre Position zum Nutzen von Mitarbeitern und Unternehmen deutlich aufzuwerten.

Jörg Schülke, Geschäftsführender Gesellschafter C.U.P.-Institut GMBH, München – Dezember  2018
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